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Wednesday, August 1, 2007

WANN KOMMT JENER ENGEL

Wann kommt jener Engel

weißt du dass wolle kratzt
auf nackter haut
weißt du was weh tut
ohne dass man es sieht

weißt du dass scham brennt
auf nacktem gesicht
weißt du wie man
ohne tränen weint

wer erlöst uns
wann kommt jener engel
der schwarze müllsäcke
und fette chips in gold verwandelt

der das watscheln der fetten
und niedergeschlagenen
mütter in tanz wandelt

der engel, der ihren kindern
freude in die wunden augen singt,
und die kleinen gesichter,
die blass und krank
aus den häuserschluchten
klaffen, ins Leuchten weht

wann wird er mit den flügeln
schlagen, um mir den weg
zu weisen, dort, hier,

umhüllt vom dunkel
im licht
jetzt

KOLEP UND DIE SCHLANGEN

EINFALT – VIELFALT
oder :
„Kolep und die Schlangen“

ZITAT
„Jeder Mensch kann die Welt verändern!“
„Ich hatte immer nur Angst vor der Einfalt der Menschen, nicht vor deren Vielfalt”, sagte der Frankfurter Anwalt in Anspielung auf das Thema seines Festvortrags „Vielfalt statt Einfalt”. Der Fremde, der Ausländer, der uns Angst mache, sei im Grunde das Fremde in jedem Menschen selbst. Diesen gelte es kennen zu lernen. „Dann haben Sie auch keine Angst vor dem Anderen”, so Friedman. (FU 11/2000)

Kolep schaute mich an. Hundeaugen. Kartoffeln. Kohl. Schweineschmalz. Ajax. Ich weiß nicht, warum ich an Ajax dachte.
Er versuchte zu reden, etwas in der Kehle stecken gebliebenes. Nasenbluten. Schmerzen. Schweiß.
„Hau ab.“
Das wollte er sagen.
Aber ich ging nicht. Ich dachte, „Gott wird Euch strafen“. Manchmal dachte ich wirklich, „ist doch nur körperlich“. Ich weiß heute auch nicht mehr, wie ich so etwas denken konnte. Wenn man Schläge bekommt, wenn die anderen in der Überzahl sind, wenn nach dem ersten Zorn die Kraft ausgeht, so erschien es gut, sich von seinem Körper zu lösen, sich daneben zu stellen. Schon wurden die Schmerzen weniger, und Kraft blieb übrig für etwas wichtigeres, für das Bewusstsein des eigenen Wertes.
„Sag dass du Kolep blöd findest, los sag, ich finde Kolep blöd!“ Schlangenauge ragte über mir auf, das Klassenbuch in der Hand. Er hatte es mir zwischen die Beine geschlagen, in die Eier, wo es weh tat, während vier Mann mich festhielten, jeder an einem Arm oder Bein.
„Nein!“ brüllte ich, „niemals“. Er schlug wieder zu. „Ja“, schrie ich. Pause. „Sag es!“ „Nein!“ So ging das Spiel. Ich erhielt eine Pause; niemals änderte ich meine Meinung. Am Schluss gab ich nie nach. Irgendwann kam ein Lehrer, ein Erwachsener, irgendjemand.
Kolep wohnte im Armenhaus, ein immer schmutziger Rotschopf mit Sommersprossen und einem offenen Grinsen, dessen Mutter sich schämte, wenn ich ihn besuchen wollte.
Das Haus steht noch, ein Rest von einem abgebrochenen Torbogen für was auch immer, ein nasses zweistöckiges Haus am Waldrand, am Stadtrand, Risse im bröckelnden Putz, ein schadhaftes Dach.
Koleb wanderte aus, mit seinen Geschwistern, dem schweigsamen Vater mit den dunklen traurigen Augen und mit der Mutter mit den wilden Haaren : sie gingen nach Australien, wo es Verwandte und eine Farm gab.
Ich beneidete ihn, obwohl ich nicht sicher wusste, ob das richtig war.
Meine Phantasie war sehr ausgeprägt zu der Zeit, sehr lebhaft, und ich hatte schon selbst ans Auswandern gedacht. Dabei wurde mir schmerzlich meine biologische Minderwertigkeit bewusst, die Brille, ohne die ich sicher im Urwald verloren sein würde, das Hüsteln, die Schlackerbeine, mein häufiges Kränkeln.
Ja, ich hatte schon alles zusammengeklaut, sogar an ein Beil für Feuerholz hatte ich gedacht, an ein Taschenmesser, an eine Decke, und ich dachte daran, mein Glück als Schiffsjunge zu versuchen, als Schiffskoch zu lernen. Kochen war ein schöpferischer Akt, gleichzeitig erschien es mir als eine gute Routine, um sich sein Überleben sichern zu können.
Aber dann hatte ich doch zu viel Angst vor der Armut, der Nässe, der Kälte, dem Dunkel und den Krankheiten, die sicher auf mich im Ungewissen lauerten.
Kolep war ein Flüchtling, dessen Familie so arm war, dass es nicht einmal zu einer Wohnung in der staubigen Arbeitersiedlung gereicht haben konnte. Sicher kam er aus Polen. Mir schien unklar, ob er nun ein polnischer Deutscher oder ein deutscher Pole war. Ich war ja erst acht oder neun Jahre alt zu der Zeit.
Aber ich mochte Kolep, der von mir in Deutschdiktaten abschreiben durfte, musste, denn er konnte nichts richtig schreiben, nicht einmal nichts.
Ich mochte ihn nicht nur, weil ich ihm überlegen schien in diesen Dingen. Sogar meine merkwürdige Herkunft, ich, Sohn eines Mannes, der älter war als mein Großvater, sogar das schien besser als ein Dasein als Flüchtling und Undeutscher, als Deppenjunge, der nicht schreiben konnte. Aber ich mochte ihn, weil er lachen konnte, weil ich seine Freude sah, dass jemand ihn genug mochte, um ihn abschreiben zu lassen.
In meinen wirren Träumen war ich der weiße Indianer, ich war Hemingway, und er war der Soldat mit dem Lederranzen, der Bettelprinz mit den roten Haaren. Er kriegte die Prinzessin, den Thron, des Teufels goldenes Haar; und ich schrieb seine Geschichte.
Schlangen haben keinen Gesichtsausdruck. Oder wenn doch, dann jedenfalls ändert sich dieser Ausdruck nicht merklich. Die Augen bleiben offen, nur eine Haut zieht sich wie ein Kameraverschluss vor die Pupille, wie ein Vorhang. Dadurch wirken sie unheimlich, grausam und gleichgültig. Bei einem Menschen ohne Gesichtsausdruck ist es so, dass wir Furcht empfinden oder dass wir zumindest seinen Charakter für abstoßend halten. Wir werden uns entweder fern halten oder gleich schießen. So ähnlich ist auch unser Verhalten gegenüber Schlangen.
Schnee. Geruch von Schnee. Sperma. Fades. Gurken.
So ein Tag fing mit Migräne an. Die Linden streckten ihre schwarzen Äste in den grauen Januar, und die nassen Zweige glänzten. Es sah so aus, als ob selbst die Bäume froren.
Ich hätte weglaufen sollen. Manchmal lief ich weg. Schlangenauge war grausam. Wenn ich weglief, kam ich mir als ein Verräter vor.
Um in unsere Schule zu kommen, musste man etwa 20 Stufen hoch, und davon gab es drei Eingangstreppen, in der Mitte und an jeder Seite eine. Einer war in der Klasse, der lebenden Maikäfern die Flügel ausriss und sie dann mit einer Rasierklinge seines Vaters sezierte. Er war einen Kopf größer als alle anderen und er war sicher krank in seinem Kopf. Seine Sklaven, seine Ergebenen bugsierte er links und rechts an den Treppen. Er selbst stand oben vor dem mittleren Portal flankiert von mindestens zwei Gehilfen, der Scharfrichter, auf dessen Befehl nun die kleineren, die ihm missfielen, gefoltert wurden. Meistens waren es eben diejenigen, die gut zu foltern waren, Kleinere, Schwächere, Langsamere, an denen er den anderen seine Überlegenheit zeigen konnte, um noch größer und stärker vor allen zu stehen. Ich glaube nicht, dass ihn einer wirklich bewunderte. Es war ein Regime der Furcht. Er war der Stärkere und er zeigte, dass er auch der Skrupellosere war.
Bis heute erinnern mich seine blassen sezierenden Augen an die Augen einer Schlange. Vielleicht war es feige, zu meinen, dass man nicht einfach an ihm vorbei konnte, dass er irgendwie anders war, irgendwie durchgeknallt, irgendwie böse und ziemlich „hehe“. Aber diese Leitlinie half, mit den Dingen, wie sie waren, zurecht zu kommen.
An diesem Tag stand er wieder da. Ich hätte es wissen müssen. Schließlich hatte ich von ihm geträumt. Im Traum hatte er Menschenköpfe auf Schweineleiber und Schweineköpfe auf Menschenleiber verpflanzt, in dunklen tiefen Verliesen allein mit seinen unheimlichen Werken. Aber die Bedrohung war real. Er stand vor mir.
„Hengingwai!“ rief er, laut, nasal, mein Spitzname für lange. Seine Kreatur, sein Untertan. „Hengingwai, komm und hilf dem Polen!“
Neben ihm standen zwei Schulkameraden, halbwillig, aber willig. Sie hielten mich fest. Es gab kein Ausweichen, kein Davonlaufen.
„Lass Kolep in Ruhe!“
„Was krieg ich dafür?“
Kolep hatte es noch nicht gehört. Er stand am anderen Ende des Pausenhofes, träumte und kaute noch auf dem Rest seines Pausenbrotes.
„Was willst du?“
„Sag, ich bin ein Wichser!“ „Okay.“ „Nein, sag es.“ „Ich bin ein Wichser.“ „Hahaha, Hengingwai ist ein Wichser, und jetzt schlagen wir Kolep!“ das sang er fast, wie ein Hüpflied. Die kleine Gruppe rannte die Treppen runter; sie hielten Kolep die Arme auf den Rücken gedreht, und Schlangenauge schlug ihm ins Gesicht.
Ich hatte Angst, aber ich rannte hinterher. „Hör auf!“
Zu der Zeit begann es zu schneien. Lautlos. Weiß. Große weiße nasse Flocken.
Aus Erfahrung gefallen mir Schlangen inzwischen besser. Es ist nicht immer das Nachdenken, was uns Unterscheidung lehrt. Mit den Schlangen hätte ich trotz Nachdenken immer Furcht und Abscheu verspürt.
Seitdem ich weiß, wie samten und warm die Haut einer Python ist, seitdem ich weiß, dass Schlangen mit ihren Zungen riechen können und je mehr ich gelernt habe, gefährliche und ungefährliche Schlangen zu unterscheiden, desto eher bin ich bereit, mich auch mit Schlangen zu unterhalten.
Aber in der Nacht, im Dunkel ist dies alles vergessen. Mit dem Besenstiel schlug ich zu, reflexartig, als ich in Kampala ohne Licht auf einem Klo saß. Damals richtete sich neben meinen nackten Füßen eine kleine Schlange auf und züngelte.
Eine Hausnatter, nützlich, frisst Kakerlaken, Ungeziefer. Sie starb den Opfertod, weil es dunkel war.

Kolep und die kleine Schlange sind zwei Erfahrungen, die ich machen musste.
Licht an. Licht aus. Und die Welt sieht anders aus.
Man sagt, Helden seien dumm. Dumme Helden sind für mich bedeutungslos.
Man kann Schläge dafür bekommen, wenn man sich mit einem Legastheniker aus Polen anfreundet, und obwohl es mir leid tat und leid tun wird: ich werde in derselben Situation diese kleine Schlange auch ein zweites Mal ermorden! Und ich würde wieder Kolep als Freund haben wollen. Ich möchte wissen, wie und wo er nun lebt. Er hat bestimmt viel zu erzählen.
Schwarz. Weiß. Zebra. Einfalt. Vielfalt. Punkt.

MALACH-DER BOTE

MALACH - DER BOTE
Mit einem Ruck fuhr Lisa aus dem Schlaf hoch. Sie lauschte in die Stille, und obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie geweckt hatte, brach ihr plötzlich der Schweiß aus.
"Lisa?"
Die Stimme ließ sie herumfahren. Im Dämmerlicht, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel, erkannte Lisa einen Mann in der Ecke ihres Schlafzimmers.
"Johannes!", entfuhr es ihr. "Was machst du hier?"
Es war nicht Johannes. Ihr Bruder hatte vor zwei Monaten in Afghanistan seinen Dienst angetreten.
Es war ein Engel, von hinten, groß, blau, mit großen sanften bläulich schimmernden Schwingen und völlig unberechenbar.
Was, dachte Lisa, was? Was macht ein Engel in meinem Schlafzimmer?
Was geschieht mir, wenn er sich umdrehen wird? Während sie das dachte, zog sich ihr Unterleib zusammen. Das war Angst, ja, sie machte fast ins Bett, und sie spürte es.
Lisa begann sich für ihre Empfindungen zu schämen. Muss ein Engel Angst auslösen, nur weil man nicht weiß, was er ist, was er machen wird, wozu er fähig sein mochte?
Naja, dachte sie, ein Engel kann dein ganzes Leben verändern.
„Los, sag es, sprich es laut aus“, vernahm sie wieder diese Stimme in ihrem Kopf, sanft, vibrierend und voll harmonischer Resonanz.
So viel Harmonie war schon an und für sich beängstigend, aber aus dem Mund eines Engels, der nicht durch den Raum, sondern direkt in deinem Kopf spricht, wirkt das sehr verunsichernd.
Lisa glaubte also nicht eben an eine Verständigung, die eine Frau befriedigen könnte. Da sie das aber gewohnt war, presste sie laut und ärgerlich hervor: „Was willst DU hier? Willst du mich und mein Leben durcheinanderbringen? Wer bist DU?“. Ihre Stimme brach am höchsten Punkt vor Aufregung, und sie ärgerte sich darüber noch mehr. Sie wollte nicht auch noch vor Engeln verlegen da liegen.
„Ich komme von weit und geh noch weiter, bringe Sehnsucht, bringe Träume. Such dir einen Traum aus“ , und er drehte sich um, wobei er gleichzeitig seine Schwingen so weit zusammenklappte, dass Lisa diese von vorn nicht mehr sehen konnte. In seinen Armen hielt er einen Strauss aus Träumen, duftend und voll von Wind und Meer und Licht und großer Unruhe.
Seine Augen hielt er auf die Erde gerichtet, mit schweren fast geschlossenen Lidern strahlte er von der anderen Seite des Zimmers, und es lag so viel Kraft in seiner Anwesenheit und in ihrem Zimmer, dass Lisa schon daran dachte, dass sie verstrahlt werden könnte.
In dem Augenblick ertönte an ihrer Seite ein lautes Schnarchgeräusch gefolgt von einer absolut beängstigenden Atempause. Als sie darüber erschrak, fiel es ihr wieder ein.
Der Malach lächelte. Es floss ein Leuchten aus seinen Augen, und er löste sich auf.
Lisa wusste alles wieder. Sie spürte, wie sie über die Wiesen tanzte in einem grünen Atem, froh und frei. Sie war fünf Jahre alt .
Neben ihr wieder ein Grunzen, atmosphärisch uneben, erdig, und ein unangenehmer Geruch machte sich bemerkbar. Axel wühlte mit seinem Kopf in ihrer Achsel, das kitzelte von ferne her. „Ach, Johannes Hund, Nervensäge“, murmelte sie zu sich, drehte sich um.
Lisa wollte noch nicht aufwachen. Der Löwenzahn leuchtete aus dem Gras, und der Wind brachte den Duft von Blumen in ihr Haar.
Sie breitete die Arme aus und flog, über die Hügel, durch Nebel, durch Sonne, Vogelzwitschern, an summenden Bienen und brummenden Hummeln vorbei, immer ins Licht.
Eine Krähe schrie, das Dunkel brach mit einem Windstoss über sie herein, und sie fiel und fiel und fiel. Sie fiel lautlos durch einen Schacht, weiter und weiter, tiefer und tiefer, endlos bis an die andere Seite der Welt. Ihre Füße berührten kein einziges Mal mehr den Boden. Sie schwebte über glitzernden Wüstensand in der Morgenröte auf der ganz anderen Seite der Erde, furchtlos, ganz allein.
Und im Himmel war ein Gesang, dem sie folgte, ein Ton aus der Stille, der sie zurück trug, weit in ihre Wiese, sanft ins hohe Gras.
Ein Käfer krabbelte über ihren Arm. Und jetzt spürte sie dieses Leuchten in ihr selbst. Langsam stieg es aus ihrem Bauch in ihren Kopf hoch, schwoll, füllte alles an, und sie fühlte sich wie eine Zwiebel, Schale um Schale um Schale. Grüne Triebe schossen aus ihrem Kopf, und auf der feinen splitternden Haut glitzerten Tränen.
Lisa wachte auf, nieste, rieb sich die Augen. Axel sprang aus dem Bett und wedelte mit dem Schwanz.
Nichts war wie vorher, und ein Hauch von Zwiebeln hing in der Luft.