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Wednesday, August 1, 2007

MALACH-DER BOTE

MALACH - DER BOTE
Mit einem Ruck fuhr Lisa aus dem Schlaf hoch. Sie lauschte in die Stille, und obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie geweckt hatte, brach ihr plötzlich der Schweiß aus.
"Lisa?"
Die Stimme ließ sie herumfahren. Im Dämmerlicht, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel, erkannte Lisa einen Mann in der Ecke ihres Schlafzimmers.
"Johannes!", entfuhr es ihr. "Was machst du hier?"
Es war nicht Johannes. Ihr Bruder hatte vor zwei Monaten in Afghanistan seinen Dienst angetreten.
Es war ein Engel, von hinten, groß, blau, mit großen sanften bläulich schimmernden Schwingen und völlig unberechenbar.
Was, dachte Lisa, was? Was macht ein Engel in meinem Schlafzimmer?
Was geschieht mir, wenn er sich umdrehen wird? Während sie das dachte, zog sich ihr Unterleib zusammen. Das war Angst, ja, sie machte fast ins Bett, und sie spürte es.
Lisa begann sich für ihre Empfindungen zu schämen. Muss ein Engel Angst auslösen, nur weil man nicht weiß, was er ist, was er machen wird, wozu er fähig sein mochte?
Naja, dachte sie, ein Engel kann dein ganzes Leben verändern.
„Los, sag es, sprich es laut aus“, vernahm sie wieder diese Stimme in ihrem Kopf, sanft, vibrierend und voll harmonischer Resonanz.
So viel Harmonie war schon an und für sich beängstigend, aber aus dem Mund eines Engels, der nicht durch den Raum, sondern direkt in deinem Kopf spricht, wirkt das sehr verunsichernd.
Lisa glaubte also nicht eben an eine Verständigung, die eine Frau befriedigen könnte. Da sie das aber gewohnt war, presste sie laut und ärgerlich hervor: „Was willst DU hier? Willst du mich und mein Leben durcheinanderbringen? Wer bist DU?“. Ihre Stimme brach am höchsten Punkt vor Aufregung, und sie ärgerte sich darüber noch mehr. Sie wollte nicht auch noch vor Engeln verlegen da liegen.
„Ich komme von weit und geh noch weiter, bringe Sehnsucht, bringe Träume. Such dir einen Traum aus“ , und er drehte sich um, wobei er gleichzeitig seine Schwingen so weit zusammenklappte, dass Lisa diese von vorn nicht mehr sehen konnte. In seinen Armen hielt er einen Strauss aus Träumen, duftend und voll von Wind und Meer und Licht und großer Unruhe.
Seine Augen hielt er auf die Erde gerichtet, mit schweren fast geschlossenen Lidern strahlte er von der anderen Seite des Zimmers, und es lag so viel Kraft in seiner Anwesenheit und in ihrem Zimmer, dass Lisa schon daran dachte, dass sie verstrahlt werden könnte.
In dem Augenblick ertönte an ihrer Seite ein lautes Schnarchgeräusch gefolgt von einer absolut beängstigenden Atempause. Als sie darüber erschrak, fiel es ihr wieder ein.
Der Malach lächelte. Es floss ein Leuchten aus seinen Augen, und er löste sich auf.
Lisa wusste alles wieder. Sie spürte, wie sie über die Wiesen tanzte in einem grünen Atem, froh und frei. Sie war fünf Jahre alt .
Neben ihr wieder ein Grunzen, atmosphärisch uneben, erdig, und ein unangenehmer Geruch machte sich bemerkbar. Axel wühlte mit seinem Kopf in ihrer Achsel, das kitzelte von ferne her. „Ach, Johannes Hund, Nervensäge“, murmelte sie zu sich, drehte sich um.
Lisa wollte noch nicht aufwachen. Der Löwenzahn leuchtete aus dem Gras, und der Wind brachte den Duft von Blumen in ihr Haar.
Sie breitete die Arme aus und flog, über die Hügel, durch Nebel, durch Sonne, Vogelzwitschern, an summenden Bienen und brummenden Hummeln vorbei, immer ins Licht.
Eine Krähe schrie, das Dunkel brach mit einem Windstoss über sie herein, und sie fiel und fiel und fiel. Sie fiel lautlos durch einen Schacht, weiter und weiter, tiefer und tiefer, endlos bis an die andere Seite der Welt. Ihre Füße berührten kein einziges Mal mehr den Boden. Sie schwebte über glitzernden Wüstensand in der Morgenröte auf der ganz anderen Seite der Erde, furchtlos, ganz allein.
Und im Himmel war ein Gesang, dem sie folgte, ein Ton aus der Stille, der sie zurück trug, weit in ihre Wiese, sanft ins hohe Gras.
Ein Käfer krabbelte über ihren Arm. Und jetzt spürte sie dieses Leuchten in ihr selbst. Langsam stieg es aus ihrem Bauch in ihren Kopf hoch, schwoll, füllte alles an, und sie fühlte sich wie eine Zwiebel, Schale um Schale um Schale. Grüne Triebe schossen aus ihrem Kopf, und auf der feinen splitternden Haut glitzerten Tränen.
Lisa wachte auf, nieste, rieb sich die Augen. Axel sprang aus dem Bett und wedelte mit dem Schwanz.
Nichts war wie vorher, und ein Hauch von Zwiebeln hing in der Luft.

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